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Zukunftsnebel

Von Henry Leon Richtmann

Prolog:
Es geschah in einer grauen Vorzeit, um die sich der Schleier der Ungewissheit legt, dass die
ersten Menschen auf die Insel Ygg im rauen Meer des Nordens zogen. Es waren Krieger, die
sich in karierte Stoffe hüllten, weite Felle über den Schultern trugen und ihr kupferfarbenes
Haar in verflochtenen Knoten zusammenbanden, Kämpfer, die kehlige Rufe ausstießen und
in kleinen Gemeinschaften zusammen lebten.
Steinerne Wälle mit hölzernen Palisaden und schweren Toren stiegen die Hügel empor und
vor den Küsten lagen kleine Boote im Wasser, auf denen mit bröckelnder Farbe bemalte
Krieger mit Pfeil und Bogen, Hörnern an ihren Gürteln und Helmen auf ihren Häuptern
standen und die wogenden Weiten überblickten.
Eines dieser Stammesgebiete war B´Wronheim, das Land der B´Wrons, dem reichsten und
am weitesten entwickelten Stamm der damaligen Zeit. Während die anderen Menschen noch
mit dem Ruß glühender Äste aus zu qualmenden Aschehäufchen zerfallenen Feuern
ungelenk wilde Zeichen auf rohe Steine kritzelten und nur vereinzelt einfache Bronzewaffen
fertigten, erbauten die B´Wrons hohe Wälle, formte sich in ihren Schmieden unter den
klingenden Hammerschlägen kunstfertiger Meister Eisen zu blattförmigen Klingen mächtiger
Schwerter, knüpften die wettergegerbten Fischer die ersten Netze und bauten Bergarbeiter in
den steinigen Eingeweiden der Hügel und kleinen Berge Metall, Kohle und Salz ab.
Auf einem hohen Hügel wuchs zwischen Findlingen eine Festung empor. Hölzerne Palisaden
umgaben einen hohen Turm und kleine Häuser, die sich an eine Felswand duckten.

Wolfsgeheul:
Der letzte Hauch des Scheins der Sonne versank soeben in der rauen See, da ertönte das
Geheul der Wölfe vor dem Wall, der B´Wronheim umgab. Die Wächter spähten hinaus in die
aufziehende Nacht und erhaschten leuchtende Augenpaare, Schatten, die zwischen den
Baumstämmen umher huschten. Urplötzlich ertönten stampfende Schritte, unter denen die
Erde erzitterte. Im Wald bewegten sich gigantische Körper auf den Wall zu, rings um sie
fielen Bäume krachend zu Boden und Fontänen von scharfen Steinen und klumpiger Erde
brachen aus der Erde empor. Endlich brach das Unheil aus dem Wald hervor. Dort ritten auf
gigantischen Wölfen Trolle durch die Nacht. Riesige menschenähnliche Gestalten waren es,
die Baumstämme schwangen und mit Steinen warfen. Und während noch die Hörner der
Wachen ertönten, rissen sie schon Breschen in die Mauern. Die Wache floh und mit ihr die
ganze Bevölkerung von B´Wronheim. Sie zogen sich in ein Bergwerk zurück und schütteten
am Eingang Felsblöcke auf. „Was sollen wir nun tun?“, fragte Nad B´Wron, der Herrscher
über B´Wronheim, sein Gefolge. Seine Krieger und Untertanen blickten stumm zu Boden.
Betreten murmelte einer: „Wer kommt schon gegen einen Troll an?“ Ein anderer meinte,
dass sie einen Angriff wagen sollten, wohingegen wieder andere meinten, dass es das Beste
sei, zu warten bis das Unheil vorübergezogen wäre. Schließlich trat Narnewd B´Wron, Nads
Sohn vor seinen Vater und verkündete: „Einen Angriff können wir nicht riskieren, hier zu
warten jedoch auch nicht. Wir müssen also angreifen. Nicht aber mit Schwert und Schild,
sondern mit den Kräften des Berges.“ „Wie meinst du das?“, fragte Narnewd einen alten
Mann namens Nudo. „In diesem Bergwerk lagern doch sicherlich irgendwo Werkzeuge,
oder?“ „Gewiss, gewiss, auch einige Körbe voll Kohle und Eisen sollten sich noch irgendwo
finden“, antwortete der Alte. Narnewd überlegte kurz, dann kletterte er auf eine Kiste, sodass
alles Volk ihn sehen konnte. Eine absonderliche Form von Anmut lag in seinen Zügen.
„B´Wrons!“, rief er. „Hört mich an! In der offenen Schlacht können wir die Trolle nicht
besiegen, vielleicht aber gelingt es uns, sie durch eine List zu schlagen.“ Als er seinen Plan
erläutert hatte, staunten die B´Wrons und machten sich sogleich an die Arbeit und während
die Bergleute tief in die Stollen hinabstiegen, entfachten die Schmiede Feuer in einfachen
Schmiedeöfen und heizten Metall an, hämmerten die Steinmetze mit Pickel und Meisel auf
Steinquader ein. Tischler schnitzten für Frauen, Kinder, Krieger und Knechte aus den Balken
verlassener Stollen Werkzeuge. Sie arbeiteten die gesamte Nacht hindurch und des Tags
ruhten sie sich aus und schlichen zu späterer Stunde in das Dorf, um von dort möglichst
viele Dinge, wie Nahrung und Werkzeuge, heraufzuschaffen.

Als nun die Nacht mit dunklem Schleier aufzog und die Trolle erneut herannahten, machten
sich die B´Wrons bereit. Mit Ruß schwärzten sie ihre Haut und ihre Kleider, dann nahmen sie
ihre Bögen zur Hand und schauten zu Narnewd. Der bestrich gerade die letzten Pfeile mit
einem Pulver aus verbranntem Metall und wickelte in Öl getränkte Stofffetzen darum. Dann
schlichen die Krieger aus dem Berg. Überall versteckten sie sich auf dem Hügel und zogen
Pfeile hervor. Immer zwei Krieger standen neben einem runden Felsblock, den zwei
Steinmetzen festhielten, dann schlugen die B´Wrons Feuer in kleine Ölschalen und tunkten
ihre Pfeile hinein. Die Spitzen gingen in hellem Schein auf und flogen wie Sternschnuppen in
das Tal auf die Trolle zu, allerorten schlugen sie in den Boden und zersprangen in tausend
Funken. Die geblendeten Trolle stießen grölende Rufe aus und schlugen wild um sich. Die
Wölfe drehten sich herum und sprangen heulend auf und ab. Da brach ein Donnern los.
Von den Hügelflanken rollten die Steine hinab und flogen auf die Trolle zu. Die meisten von
ihnen gingen zu Boden, doch eine kleine Schar entging den blendenden Pfeilen und
rollenden Steinen. Dieses Häufchen sammelte sich am Fuß des Bergwerks. Da löste sich
schon wieder donnerndes Grollen, die Wolken zogen zu und aus den sich himmelhoch
auftürmenden Dunstleibern ritten in Helm und Harnisch mit Schild und Speer bewaffnet
Walküren hervor, auf B´Wronheim zu. Bei diesem Anblick erfüllte frischer Mut die B´Wrons
und so stürzten sie sich mit den letzten Findlingen in die Schlacht. Unter ihren Hieben fielen
die letzten Trolle und ihre Pfeile zerrissen so manches Wolfsfell. Die Schlacht war gewonnen,
aber wo war Narnewd? Ach, es war ein Jammer. Gerade er, der sie zu diesem Sieg geführt
hatte, fiel den Angreifern zum Opfer. Narnewd hatte einen der Trolle noch mit einem Pfeil
zwischen den Augen blenden können, doch der zweite warf ihn mit aller Wucht in den Staub
und er rollte in den blutgetränkten Fluss. So, von Bewusstlosigkeit umnachtet, trieb er auf
dem Leib seines besiegten Gegners durch die Fluten und es war nicht abzusehen, wann er
erwachen würde. In B´Wronheim jedenfalls sollte er nie mehr gesehen werden.

Die Weissagung:
Wer schlich dort einst mehr kriechend als gehend durch die finsteren Kiefernwälder droben
im hohen Nebel? In Lumpen gehüllt, auf einen knorrigen Ast gestützt. Es war ein Junge!
Blut tropfte vom Saum seines Umhangs, an seinen zerschlissenen Stiefeln klebten Matsch
und Schnee, schwarzer Ruß lag von Schweiß verschmiert auf seiner Haut. In seiner Heimat
hatten sie ihn einst Narnewd genannt, aber nun war er ein namenloses Schreckgespenst aus
Lumpen und Blut. In den eiskalten Nebelschleiern, die sich mit zerklüftenden Dunsthänden
zwischen knorrigen Baumriesen vortasteten, erstarrten ihm die Hände und der scharfe Wind
trieb ihm Eissplitter in die Haare. Als er stöhnend an einem rauen Baumstamm niedersank,
hörte er auf einmal knackend ein flammendes Feuer emporzüngeln, im Schlamm vor sich
sah er das knackende Flammenmeer beißende Funken sprühend um sich greifen. Mitten auf
einer Lichtung leckten rotgoldene Flammenzungen über den rußigen Rumpf eines verbeulten
Kessels. Eine Frau in wehenden Gewändern aus allerlei Stoffen, behangen mit klimpernden
Ketten und Edelstein im goldenen Haar schwebte über die Lichtung auf ihn zu. Er streckte
die Hand aus, griff stolpernd in die Luft und fiel in den Schlamm, kroch verzweifelt weiter und
rief sie krächzend an. Dann fraßen schwarze Schatten den abreißenden Bilderstrom vor
seinen Augen auf. Aus den Dingen wich die Farbe, alles um ihn herum wurde dumpf und
langsam, er hörte seinen keuchenden Atem und sein pochendes Herz. Noch einmal krächzte
er flüsternd mit staubtrockenem Hals um Hilfe, dann versank er in einem Meer aus dunstigen
Schatten.

Als er blinzelnd die Augen aufschlug, lag er auf einem Lager aus Tierfellen, in Decken gehüllt
und von Verbänden umschlungen. Stoffstreifen aus vergilbter Leine lagen, von Blut befleckt,
um seinen Leib. Kälte strich über seine Haut und von irgendwoher hörte er ein mildes
Blubbern. Das Blatt einer großen Esche segelte vom Ast hinab auf Narnewd. Der Wind trieb
Funken durch die Waldluft und das Blatt fiel glühend auf Narnewds Brust. Er keuchte, als das
Blatt sich wand und über seinem Herz eine Brandmarke hinterließ. Der Wind trieb das
zerbröselnde Blatt davon und die Frau schwebte an seine Seite. In ihren Händen hielt sie
eine geschnitzte Holzschale und hinter ihrem seidenen Schleier sagte sie: „Trink Narnewd
B’Wron, Sohn des Nad B´Wron.“ Narnewd richtete sich benommen und mit trübem Blick auf.
Als er an der Schale genippte hatte, rann ein warmer Schein durch seine Kehle. In seinen
steifen Gliedern entflammte neue Kraft. Seine Knochen fügten sich aneinander. Aus den
Leinenverbänden wich das Blut. Die Furchen und klaffenden Wunden schlossen sich. Sein
Blick wurde klarer und sein Blut begann wieder zu laufen. Sein Herz pochte laut und in
seinen Ohren verfingen sich wieder Laute, Vogelgezwitscher und das Knarzen hoher
Fichtenwipfel im Wind. Der Trunk spülte den Knoten aus seiner Zunge und langsam fragte er
brüchig: „Wer bist du?“ „Ich“, sagte die schöne Frau und in ihrem goldenen Haar glänzten
verflochtene Perlen. „bin Flavia.“ „Die Goldene“, murmelte Narnewd und sah sie an. Sie
schwebte über dem Boden und der Wind strich ihr die goldenen Locken aus dem Gesicht.
Sie hüllte sich in weite Tücher und ein weißes Leinengewand. Ein Hauch von Stoff lag ihr
über Mund und Nase und ein goldenes Band lag um ihre Taille. Feingearbeitete Reifen, in
denen kleine Edelsteine funkelten, umspielten klimpernd ihre Füße und um ihren Hals wand
sich ein Reif aus dünnen Goldfäden, der in Katzenköpfen endete. Ihre kristallklaren Augen
leuchteten blau und ein warmes Lächeln lag um ihren Mund. In der Hand hielt sie einen Stab
aus goldweißem Sonnenlicht. „Ich habe dich bereits erwartet“, sagte Flavia mit sanfter
Stimme. „Mich erwarte?“, fragte Narnewd verwundert. „Du musst wissen“, begann Flavia,
„dass ich eine Tochter des Götterkönigs Odun bin und als Weissagerin durch diese Welt
streife. Mir wurde vorhergesagt, dass ich dich auf deinen Abenteuern begleiten soll.“
„Auf meinen Abenteuern…“, fragte Narnewd matt und blickte in Flavias unergründliche
Augen. „Ja, auf deinen Abenteuern“, erklang Flavias Stimme hell und heilvoll. „Ich soll dir
vom Göttervater eine Weissagung überbringen, einen Auftrag, den du bestehen musst.“
„Dann lass mich hören“, meinte Narnewd, der wieder neuen Mut gefasst hatte. „Wie du es
wünschst“, sprach Flavia wohlwollend und berührte mit der Spitze ihres Stabs Narnewds
Stirn. Kleine Wellen liefen über seine Haut und als er die Augen schloss, formten sich aus
den Lichtstrahlen Bilder. Er sah sich selbst, wie er über eine Straße aus goldenen Schädeln
ging. Blut floss durch die Rillen und an seiner Seite schwebte Flavia mit wehendem
Goldhaar. Hinter ihnen wuchsen Gestalten aus dem Pflaster und folgten ihnen hinein in eine
dunkle Ungewissheit, von der sie wussten, dass sie sie alle verschlingen würde und in die
sie trotzdem erhobenen Hauptes mit kühlem Stolz in ihren Blicken marschierten. Das war
alles, was Narnewd sah. Aber es genügte ihm schon, weil er wusste, was es zu bedeuten
hatte. Als Flavia den Stab zurückzog, sprach er: „Ich werde also mit einer Schar von Kriegern
in den Tod reiten, aber auf dem Weg eine Menge Feinde schlagen.“ „So steht es mit
mächtigen Runen in Stein geritzt“, verkündete Flavia. „ Und so wird es geschehen.“ „Aber
wie soll ich das tun?“, fragte Narnewd, „Ich habe keine Waffen und keine Rüstung!“ „Daran
soll es nicht scheitern“, meinte Flavia und rammte ihren Stab in den Boden, sodass er Risse
warf, aus denen Staubwolken aufstiegen, und aus einem Spalt in der Erde ein
Rüstungsständer wuchs. Als Flavia pfiff, liefen zwei junge Wölfe aus dem Wald und von den
Baumwipfeln erhoben sich zwei mitternachtsschwarze Raben, die majestätisch zu ihnen
herabglitten. Narnewd blieb, von Erstaunen erfasst, stehen und blickte seine Gefährtin an.
Sie blickte zu ihm zurück und sagte dann in mildem Tonfall: „Ein Geschenk meines Vaters
Odun für euch.“ „Ich danke euch vielmals, aber womit habe ich diese Ehre verdient?“, fragte
Narnewd und verbeugte sich vor Flavia. „Wie ihr wisst“, sagte Flavia und zog Narnewd hoch,
„lagern überall über das Land verstreut Schätze und verzauberte Gegenstände in Höhlen
und Horten wilder Monster, Wesen mit gebleckten Zähnen und peitschenden Schwänzen.
Odun will, dass du unter seinem Namen und seinem Heil einen Orden gründest und so viele
dieser Schätze sammelst, wie nur irgend möglich.“ „Nun“, befand Narnewd, „wenn es das ist,
was der Göttervater wünscht, dann werde ich es erfüllen. Aber wie, wo ich doch noch ein
Junge bin?“ „Ich werde euch alles lehren, was ihr zu wissen braucht und wenn die Zeit reif ist
und Odun uns ein Zeichen schickt, dann werden wir losziehen.“ Und so geschah es auch.
Narnewd legte die Rüstung an und nahm seine Waffen zur Hand. Die Wölfe schlichen an
seine Seite und die Raben nahmen auf seinen Schultern Platz. Viele Jahre übte sich
Narnewd in allem was ein Krieger können muss und noch vielem mehr. Er ritzte Runen,
mächtige magische Zeichen, in Stein und Holz, sang starke Zauberlieder und mischte
Elixiere, Tinkturen, Tränke und Salben, lernte das Reiten und Jagen, Spurenlesen und
Schwertkämpfen. Mit jedem Tag erschien ihm Flavia bewundernswerter und vertrauter.
Es war, als hätte man sie aus Lehm und Wasser füreinander geformt oder aus einem
einzigen Holzscheit geschnitzt. Eines Tages aber, als Narnewd längst ein starker Mann von
hohem Wuchs und ungeahnter Gewandtheit geworden war, war es so weit und sie mussten
aufbrechen.

Der Aufbruch:
Als der morgen an diesem Tag graute, trat ein Hirsch mit acht Beinen aus dem dunstigen
Nebel. Raureif perlte an seinem Fell hinab, an den Spitzen seines Geweihs leuchtete eine
Krone aus goldenem Licht. Er war mit einem ledernen Sattel geschmückt und an seiner Seite
hingen gefüllte Säcke voll Proviant. In seinem Geweih, lag ein lederner Beutel. Als Narnewd
sich erhob und eine kalte Briese über seine Haut fuhr, schwebte Flavia hinter dem Hirsch
aus dem Wald auf ihn zu. Sie hüllte sich in ein weißes Gewand und dunkle, karierte Stoffe,
die sie mit einer Spange zusammenhielt, noch immer trug sie den Katzenreif aus goldenen
Fäden um ihren Hals, aber nun kräuselten sich ihre Haare unter einem Helm hervor und sie
trug einen ledernen Harnisch. „Es ist so weit“, rief Flavia Narnewd zu. „Wir müssen
aufbrechen.“ Er rappelte sich auf und warf sich in seine Rüstung. Sie packten ihr Lager
zusammen und setzten sich auf den Hirsch. Flavia umschloss Narnewds Hüfte. Der Hirsch
bäumte sich auf und galoppierte los. Die Wölfe jagten heulend hinter ihnen her und in der
Luft krächzten die Raben. Die Sonne hüllte sich in zerklüftende Nebelschleier, die Bäume
streckten ihre Wurzeln tief in die Erde und schüttelten ihre Bärte. Nichts rührte sich in den
Wäldern, nur dass ferne Donnern der Hufe, das Geheul der Wölfe und Gekrächze der Raben
ertönte über den Baumwipfeln.

Der Trollhort:
Lange waren sie geritten. Der Mond erhob sich schon in silbernem Glanz und trieb ein Heer
schwarzer Wolkenschafe über die silbern funkelnde Sternenwiese. Nebel floss von den
Bergen herab in die Wälder und Ruhe legte sich wie eine Decke über die hohen Baumwipfel.
Da donnerten urplötzlich Schritte. Ein Grunzen und Brüllen erhob sich über den
Baumwipfeln. Bäume fielen knackend zu Boden und hüllten sich in Staub und Erde.
Zwischen den Baumstämmen schoss eine züngelnde Feuerzunge, funkensprühend, mit
loderndem Schein um sich werfend, empor und leckte über frische Holzscheite, ließ Rinde
knacken, und Holz zerspringen, warf mit beißenden Funken und griff mit flammenden Armen
um sich, spie Rauch in die Nacht und legte sich flackernd. Drei Gestalten, von gigantischen
Ausmaßen, standen um das Feuer herum und wuchteten einen Kessel in die Flammen,
sodass Holzscheite funkensprühend barsten und wilde Flammen, züngelnd über den rußigen
Rumpf leckten. Das waren Bergtrolle, die dort des Nachts in wilde Schatten gehüllt, aus ihrer
Höhle auf eine Lichtung krochen, um sich ihren widerlichen Fraß zu kochen. Sie waren dick,
hatten kahle Köpfe, lange Arme und trugen nichts als große Felle an ihren Leibern. Einer
schwang eine übergroße, schlecht geschnitzte Suppenkelle durch die Luft und warf
Fleischkeulen in den Kessel, in dem ein Sud aus Kräutern und Pilzen blasenwerfend kochte
und widerlich stank. Die anderen zwei rissen mit bloßen Händen Bäume aus der Erde und
schlugen sie splitternd in kleine Stücke. Dazu sangen sie grölend ein schauriges Lied und
stampften ohne Takt und Rhythmus mit ihren Füßen, sodass die feuchte Erde in Klumpen
über die Lichtung flog, Staub in schleierhaften Wolken aufstob und zwischen den
Baumstämmen in den Wald galoppierte.

Der Hirsch verlangsamte seine Schritte. Die Wölfe bleckten die Zähne und über ihnen ließen
sich die Raben flügelschlagend nieder. Narnewd drehte sich zu Flavia um, die ihn aus ihren
blauen Augen anlächelte und nickte. Sie stiegen ab und gingen, sich duckend zwischen
hohem Farn hindurch, auf die Lichtung zu. Narnewd zog sein Schwert aus der Scheide und
in Flavias Hand erschien pulsierend ihr Speer aus gedimmtem Licht. Die Wölfe schlichen
lautlos an ihre Seite. Plötzlich hörten sie angsterfüllte Schreie und sahen, wie einer der Trolle
einen Sack, in dem es unheilvoll zuckte und rappelte, aus einem Höhlenschlund schleppte.
„Lasst uns heraus!“, tönte es aus dem Sack. „Lasst uns heraus ihr widerlichen, stinkenden
Trollfratzen.“ Die Trolle brachen in johlendes Lachen aus und warfen den Sack bedrohlich
nah beim Feuer ab. Im Gebüsch aber, gut verborgen durch hohe Gräser und umgefallene
Bäume, spannte Narnewd seinen Bogen und legte an, er zielte auf den Kessel und atmete
tief aus. Schon flogen drei Pfeile surrend durch die Luft und zerschlugen den
rußgeschwärzten Rumpf des Kessels gerade dort, wo er mit einem Stück Metall und rostigen
Nieten geflickt worden war. Das kochende Wasser sprudelte aus dem umfallenden Kessel
und während der Deckel in der staubigen Erde zerbarst, erlosch das letzte glimmende
Glühen des Flammenmeers, Wolken schoben sich vor den dunkler werdenden Mond und die
Nacht wurde finster. Da brach das Unheil über die zornig brüllenden Trolle herein. Herge und
Flerge, Narnewds Wölfe, sprangen aus dem Gebüsch und stürzten sich mit den beiden
Raben Huge und Mune auf den größten der drei Trolle, der mit einem Baumstamm wütend
um sich schlug und verdorbene Beleidigungen ausstieß. Flavia schwang ihren Stab und
schoss mit Kugeln reinen Lichts auf die hünenhaften Gestalten. Als dann auch noch
Narnewd die Gefangenen aus dem Sack befreite und sie mit funkensprühenden Ästen auf
ihre Gegner einschlugen, wussten die Trolle sich nicht mehr zu helfen und gingen einer nach
dem anderen unter Zähnefletschen, Flügelschlagen, Feuerästen und Schwerthieben zu
Boden. Stöhnend fielen sie, Bäume entwurzelnd und Staub aufwirbelnd um und rührten sich
nicht mehr. Die Zweige der Gefangenen zersprangen in Funkenschauern. Narnewd schob
sein Schwert zurück in die Scheide und während sich die Tiere an den Trollleibern gütlich
taten, sammelten sich die Kämpfer an dem erloschenen Lagerfeuer, wo Flavia ihren Stab in
den Boden rammte und ihnen Licht spendete. Im seichten Schein des Lichtes erkannten sie
erst schemenhaft, dann immer deutlicher, wettergegerbte Gesichter und vernarbte Arme.
Vor Narnewd saßen drei Krieger, in zerfurchten Lederharnischen und in Fetzen gerissenen
Waffenröcken. Der älteste von ihnen, ein Mann mit grauem Haar und einer Augenklappe,
erhob die Hände und sprach mit tiefer Stimme: „Wir sind euch zu Dank verpflichtet,
unbekannte Retter. Mein Name lautet Gere und das sind meine Söhne Ank und Vertu. Wir
waren auf dem Weg zum Kloster der Seaheimr-Berge, als uns die Trolle überfielen und
unseren Tross plünderten. Wir stellten uns ihnen in den Weg, aber sie entwaffneten uns und
verschleppten uns hierher.“ „Mein Name ist Narnewd“, antwortete er, „und dies ist Flavia,
meine Gefährtin. Wir sind ausgezogen, um magische Artefakte aus den Händen der Monster
zu befreien.“ „Das ist eine gute Sache“, meinte Gere. „Vielleicht sollten wir uns euch als Dank
für unsere Rettung anschließen und vielleicht könnten wir euch ein neues Ziel verraten.“
„Nun gut“, verkündete Narnewd. „dann lasst uns hier einen Orden gründen.“ „So soll es
sein“, riefen die drei Geretteten aus. „Wie aber sollen wir diesen Orden nennen?“, fragte Ank.
„Da es Odun war, der uns diesen Auftrag auferlegte, sollten wir dieses Bündnis Oduns Schar
nennen“, schlug Flavia vor. Die anderen nickten und stimmten ihr zu. So war es beschlossen
und so sollte es kommen.
„Nun erzählt aber“, sagte Narnewd zu den Geretteten, „wo sollen wir als nächstes suchen.“
„Nun“, antwortete Gere entschlossen. „Zuerst sollten wir wohl den Trollhort durchsuchen und
danach könnten wir uns zum Kloster begeben. Die Mönche dort sind Odun treu ergeben und
wissen sicherlich, wo im Gebirge von Seaheimr Monster hausen.“ „Aber zuvor sollten wir uns
erst einmal ausruhen“, befand Vertu, dem die müden Augen schon halb zu fielen. Gähnend
rollte er sich auf dem kargen Boden zusammen. Flavia nahm ihren Helm vom Kopf,
schüttelte ihre goldenen Haare aus und spielte auf einer Harfe aus Licht, mit Fäden aus
Glanz, sanfte Töne, mit denen sie alle ins Land der Träume entführte.

Am nächsten Morgen weckte sie, nach einem erholsamen Schlaf, ein gedimmter Schein der
Strahlen, der aufgehenden Sonne, die im Nebel über die Wiese tanzten und sich in Raureif
und Morgentau in ihren Haaren brachen. Herge und Flerge erhoben sich schemenhaft im
Dunst und aus dem Wald trat Sleipnar, Narnewds Hirsch, während auf dunklen, von
milchigem Dunstnebel getränkten Schwingen, Huge und Mune über der Lichtung kreisten.
Aus der verkohlten Asche des zerfallenen Trollfeuers beschwor Flavia ein neues
Flammenmeer, über dem sie Hähnchenkeulen aus löchrigen Plündersäcken rösteten. Nach
einem ausgiebigen Frühstück, zogen sie brennende Holzscheite aus dem Feuer und
wandten sich dem Trollhort zu. In der bewaldeten Flanke eines Waldhains öffnete sich ein
finsterer Schlund. Der Nebel legte sich auf den Boden und die Sonne brach durch die
Wolken. Hinter ihnen überzog brüchiges Gestein, mit tiefen Furchen aus denen Rinnsale von
körnigem Staub stürzten, die hünenhaften Leiber. Das Licht trieb die Schatten der Nacht tief
in die Höhle zurück und die fünf Gestalten wanderten in die steinigen Eingeweide des Hains
hinein. Drinnen empfing sie stickige Luft und ein widerlicher Gestank, aber trotzdem rückten
sie gespannt vor, durch einen breiten Gang, mit hoher Decke, hinein in einen weiten
Höhlenraum. Dort stützten hohe Tropfsteinsäulen die dunkle Gewölbedecke und überall
erhoben sich Türme von Truhen, Fässern und geflickten Kesseln voll Gold, aus denen
Edelsteine wie leuchtende Augen funkelten. Der Reichtum schien kein Ende zu nehmen. Die
Truhen und Kessel quollen über vor Schätzen. Klimpernde Münzen schoben sich zwischen
den zerfaserten Fäden notdürftiger Flicken aus prallgefüllten Säcken, auf dem Boden
verstreut lagen Rüstungen und in den Ecken lehnten Waffen. „Seht euch das an“, sagte Gere
staunend. „Diese Trolle müssen ganze Dörfer geplündert haben.“ „Wohl wahr“, grübelte
Narnewd, „aber nun lasst uns nach magischen Artefakten und verzauberten Gegenständen
suchen.“ „Viel werden wir wohl nicht finden“, meinte Flavia, als sie den Schatz überblickt
hatte, „da Trolle keinen großen Wert auf mächtige Relikte legen. Aber dennoch sollten hier
viele Dinge lagern, die sich mit Magie belegen lassen.“ „Das ist ein Wort, an das wir uns
halten sollten“, meinten die Brüder Ank und Vertu, während sie schon auf die Rüstungen
zugingen, um ihre zerstörte Ausrüstung zu wechseln.“ Narnewd und Flavia nahmen die
Waffen in Angriff und Gere durchsuchten die restlichen Fundstücke. Lange rumorte es in der
Höhle. Münzen flossen in Strömen an ihnen vorbei, aber schließlich hatten sie alles
untersucht und die wichtigsten Dinge zusammengetragen. Gere hatte eine Truhe gefunden,
in die man hineinklettern konnte und so in eine große Halle gelangte. Nie wurde sie schwer
und mit Riemen konnte man sie sich auf den Rücken schnallen und eine ganze Kriegerschar
mitsamt ihren Waffen und Schätzen darin transportieren. „Ich nenne diese Halle Herjehalla,
die Halle der Krieger“, meinte Gere, dem der Stolz ins Gesicht geschrieben war. Ank und
Vertu trugen Kettenhemden, durch die kein Schwert dringen konnte und Schilde, die keine
Axt zu spalten vermochte. Ihrem Vater hatten sie einen eisernen Brustpanzer und einen
Speer, der nie sein Ziel verfehlte, mitgebracht. Narnewd hielt einen Beutel voll Runensteine
in der Hand, mit dem er mächtige Zauber legen und überall Magie beschwören konnte.
Flavia hielt ein Schwert mit blattförmiger Klinge und einem in dunkles Leder geschlagenem
Griff in den Händen. Sie füllte die Waffe mit Licht und belegte es flüsternd mit mystischen
Beschwörungen, sodass ein geheimnisvoller Schein über die filigranen Verzierungen des
Griffs, der an einen menschlichen Körper erinnerte, lief. „Nun gut“, sagte Narnewd, nach
ausreichender Untersuchung der Gegenstände, „dann lasst uns aufbrechen.“ „Ich schlage
vor, dass Ank, Vertu, Flavia und ich selbst Herjehalla untersuchen, während du Narnewd
zum Kloster von Seaheimr reitest“, sagte Gere in die Runde blickend. Narnewd nickte und so
stiegen seine Gefährten in die Truhe hinab. Als er auf die Lichtung trat, waren seine Tiere
schon bereit. Zwar beschnupperten Herge und Flerge leise knurrend Herjehalla und die
Raben Huge und Mune, ließen sich misstrauisch pickend auf der Truhe nieder, aber Sleipnar
stand bereit, freudig schnaubend, im Sonnenlicht und ließ Narnewd in den Sattel steigen. Da
wurden auch die anderen Begleiter Narnewds freudig und sie konnten aufbrechen. In
Windeseile flogen sie dahin, durch Wald und Flur, über grasige Hügel und plätschernde
Wasserläufe, immer weiter auf das Gebirge von Seaheimr zu.

Der Überfall:
Sleipnars Mähne wehte im Wind. Huge und Mune krallten sich mit zerzaustem Gefieder tief
in den Stoff von Narnewds Umhang. Herge und Flerge kauerten lauschend in der eisigen
Kälte. Sie standen regungslos auf einem hohen verschneiten Berggipfel und ihre Blicke
waren starr auf ein Kloster inmitten eines weiten Tals gerichtet. Von den Bergen floss Schnee
über eisige Hänge, schneidende Böen bliesen eiskalt durch verschneite Fichtenwälder, die
sich hie und da fröstelnd an Bergflanken klammerten. Fast war eine halbe Ewigkeit
vergangen, da endlich schälten sich ihre Silhouetten aus dem nebligen Dunst, in den sie ihr
Atem gehüllt hatte. Auf teils gefrorenen, teils matschigen Pfaden wandelten sie in das Tal
hinab. Die Sonne trieb schon ihre weißen Wolkenlämmer von der blauen Himmelswiese, da
endlich zügelte Narnewd Sleipnar vor der Pforte zum Kloster. Das schmiedeeiserne Tor war
aus den Angeln gehoben. Tiefe Furchen zogen sich durch den dünnen Frost auf dem Metall,
die steinernen Fliesen dahinter waren zersprungen, die Banner, die über den Wegen hingen,
zerfetzt. Narnewd nahm Herjehalla vom Rücken und klopfte fest auf den Deckel. Schon
öffnete sich die Truhe und Gere streckte den Kopf heraus. „Was ist?“, fragte er überrascht,
als Narnewd ihn voller Grimm anschaute. „Haben wir das Kloster nicht erreichen können?“
„Doch, doch, wir stehen vor seiner Pforte“, entgegnete Narnewd beschwichtigend, „aber
irgendetwas stimmt hier nicht. Es scheint so, als sei ein Monster oder eine andere
ungebändigte Kraft über das Kloster gekommen. Los, kommt! Wir sollten uns umschauen.
Vielleicht können wir das Schlimmste noch vermeiden.“ Gere rief Ank, Vertu und Flavia
herbei und allesamt sprangen sie aus der Truhe Herjehalla und zogen ihr Waffen. Langsam
schlichen sie vorwärts. Herge und Flerge schnüffelten vorwärts und Huge und Mune
schwangen sich in die Lüfte empor. Urplötzlich hörten sie ein markerschütterndes Gebrüll
durch die Bergluft hallen. Sie drehten sich um und liefen los, zerschlugen auf ihrem Weg
Wände und Türen, sprangen von einem Haus zum nächsten, immer weiter, immer rasender,
bis sie auf einem weitläufigen Innenhof landeten. Überall stieg von Funken durchsetzter
Rauch aus den Rillen empor. Aus Leichenbergen stürzten sich Ströme warmen Blutes,
Mönche krochen in zerfetzte Kutten gehüllt über zersprungene Fliesen. Inmitten dieses
Chaos stützte sich ein kleiner gekrümmter Mönch auf einen hölzernen Stab. Ein affenartiges
Monster ragte über ihm auf. Das war ein Yeti. Aus seinem weißen zottigen Fell ragten Pfeile,
seine geschwungenen Hörner waren von Blut verfärbt, Speichel troff von seinen
abgebrochenen Zähnen und seine roten Augen glühten wie ein loderndes Feuer. Mit einem
Hieb seiner schweren Pranke traf er brüllend sein Opfer. Der Hilflose flog durch die Luft,
schlug hart auf dem Boden auf und rollte kraftlos weiter. Gerade wollte sich die Bestie wieder
auf ihn stürzen, da traf ihn ein Strahl goldenen Lichts. Aus der Klinge von Flavias Schwert
erhoben sich noch immer Funken von Licht, als der Yeti sich zu ihr umdrehte. Narnewd
wollte eine Rune auf ihren Gegner werfen, doch Flavia hielt ihn zurück und nahm ihm mit
den Worten: „Überlasse die Zauberei mir, du bist ein Kämpfer!“ den Beutel voll Runensteinen
ab. Gere, Ank und Vertu zogen Verwundete in ein Haus und legten sie nebeneinander auf
den Boden. Narnewd nahm seine Waffen zur Hand. Einen wilden Schlachtruf auf den Lippen
stürzte er über den Innenhof auf den Yeti zu, der in eine Wolke aus Steinsplittern,
Erdklumpen und Bluttropfen gehüllt, auf ihn zu wetzte. Narnewd hörte, wie Flavia hinter ihm
eine Rune aus dem klappernden Beutel zog und in die Luft warf. Sofort sausten Flammen
wie Pfeile an ihm vorbei und zersprangen in beißenden Funkenschauern auf dem Leib des
Yetis. Als das Ungeheuer sich aufbäumte, rammte ihm Narnewd das Schild in den Bauch
und schwang sich auf seinen Rücken. Mit einem einzigen Stoß versenkte Narnewd die kalte
Klinge im Schädel des Monsters. Ein letztes Mal hallte das Brüllen des Yetis über die
Schneefelder, dann erlosch das Glühen in seinen roten Augen und er sank mit einem
rasselnden Atemzug zu Boden. Sein Körper verflog rasch in einem eisigen Nebel. Das
Schwert fiel klirrend zu Boden. Flavia schwebte zu Narnewd hinüber und legte ihm eine
Hand an die Wange. Er schaute sie an. Sein Blick füllte sich mit Wärme und um seine Augen
legte sich die Haut in Falten. „Wir sollten uns zu den Überlebenden begeben“, flüsterte
Flavia, mit ihrer Hand über das verwüstete Schlachtfeld weisend. „Das sollten wir wohl“,
meinte Narnewd.

In dem eingestürzten Säulengang lagen Mönche auf Betten aus Fellen und zerschlissenen
Decken. Ank und Vertu flößten ihnen brühende Medizin ein, während Gere ihre Wunden mit
einem Hauch kühlender Salbe bestrich. Flavia hob die Hände, woraufhin ihre Augen golden
schienen und überall Fäden aus Licht Wunden verschlossen. Narnewd mischte in einer
verkohlten Holzschüssel Medizin, rührte in kleinen Kesseln und tränkte Stoffstreifen in
warmes Wasser. „Seht nur“, raunte Vertu. „Dort vorne erhebt sich der Tod mit von Schatten
getränkten Flügeln.“ Sie überblickten den Hof, auf dem Schatten aus den Leichen krochen
und sich in der Dunkelheit verloren. „Wir sollten die Verletzten nach Herjehalla verlegen, um
sie dort gesund zu pflegen“, sagte Flavia. Alle stimmten ihr zu und so trugen sie die Mönche
in die Kiste. Flavia zog mit ihrem Schwert einen Kreis um die Truhe und aus der Furche
stiegen Splitter von Licht auf. Als sie den knarzenden Truhendeckel hinter sich schlossen,
entflammten Fackeln an den Wänden der Halle und tauchten den Raum in ein flackernd
zuckendes Licht. Flavia kniete bei einem alten Mönch mit silbrigem Bart, der ihr mit
staubtrockener Kehle Worte ins Ohr raunte. Dann erschlaffte seine knochige Hand und aus
seinen trüben Augen floss der letzte Funken Glanz. „Wir müssen uns zum Kalten Berg
begeben“, flüsterte Flavia an Narnewd gewandt. „Dort sammelt der Herr der Monster ein
Heer von Trollen, Drachen und anderer Ungeheuer, um die Welt mit Krieg und Zerstörung zu
überziehen.“ „Ich werde sofort losreiten“, sagte Narnewd und kletterte die Leiter zum
Truhendeckel empor. In der Dunkelheit der Nacht brach Narnewd auf Sleipnar zu seiner
letzten Schlacht auf. Noch einmal sollten Herge und Flerge heulend lospreschen und Huge
und Mune krächzend ihre Schwingen ausbreiten.

Der Kalte Berg:
Am Morgen der letzten Schlacht hing Nebel in der Luft. Raureif perlte von Narnewds
Rüstung. Aus Herjehalla kletterten die Mönche und Krieger von Oduns Schar empor. Sie
trugen Bögen und ihre Köcher platzten vor Pfeilen. An ihren Gürteln hingen kalte Klingen.
Hinter Mauern aus Felsblöcken verborgen, bezogen sie ihre Stellungen. Auf der Bergflanke
unter ihnen sammelten sich scharenweise die Monster. Narnewd saß auf Sleipnar und
blickte grimmig auf die Ebene. „Wir werden auf das Grauen des Morgens warten. Das Licht
des Tages wird ihnen den Garaus machen“, knurrte er mit düsterer Miene. Flavia schwebte
an seine Seite, legte eine Hand auf seine Schulter und sagte: „Es mag zwar stimmen, dass
ein Großteil des Geschlechts der Trolle und Riesen das Licht des Tages scheut und dass es
sie in Stein verwandelt, aber wir stehen hier in der Einöd Mark, an der Grenze zu Jötunheimr,
dem Land der Riesen. Nicht weit von uns entfernt liegt Utgard und dahinter schäumt das
große Weltenmeer, in dem die Schlange Jörmungand, die die gesamte Welt umschließt und
sich in ihren eigenen Schwanz beißt, haust. Hier ist das Licht des Tages nicht viel heller, als
das des Mondes, zudem wintert es und finstere Wolken verhängen den düsteren Himmel.“
„Aber all diese Findlinge hier…“, sagte Narnewd und wollte fortfahren, als Flavia ihn
unterbrach. „Fürwahr, es sind Riesenkörper, aber sie liegen hier seit alters her und haben
viele Sommer über sich ergehen lassen.“ „Wie sollen wir dieses Heer von Ungeheuern dann
besiegen?“, sagte Narnewd. „Niemand kommt gegen einen Riesen an, mag er sich noch so
sehr bemühen und noch so stark zuschlagen.“ „Wann hat dich der Mut verlassen, Narnewd
B’Wron?“, entgegnete Flavia. „Du bist kein Niemand und diese Krieger sind keine
gesichtslosen Menschen ohne Geschichte. Ihr seid Oduns Schar, euch behüten die Götter.
Ihr seid es die mit erhobenem Haupt und kühlem Stolz in den Augen in den Tod zieht, ihr seid
die, die siegen werden!“ Mit diesen Worten zog Flavia ihr Schwert und schlug gegen einen
großen Stein. Langsam begann der Fels dröhnend zu rollen, dann wurde er schneller und
schneller. Aus seinem Inneren erhob sich ein tiefes Grollen, das donnernd über die
Berghänge schallte. Ank und Vertu stemmten sich gegen weitere Felsen und mit Geres Hilfe
schickten sie die alten Riesenleiber in das Tal hinab, während sich von den Bögen der
Mönche einen Hagel brennender Pfeile löste. Unten auf den Hängen zerstreuten sich die
Trolle in alle Himmelsrichtungen. Nur eine kleine Schar blieb zurück. In Narnewds Augen
loderte ein Feuer auf. Mut füllte seinen Körper und ohne es zu bemerken, zog er sein
Schwert und rief Oduns Schar zur Schlacht herbei. Aus dem Licht einer Rune formte Flavia
Widder mit geschwungenen Hörnern und goldenen Hufen, auf denen die Krieger Narnewd
nachritten. Vor ihnen ritt er schneller als der Sturmwind auf Sleipnar dahin, Herge und Flerge
an seiner Seite, Huge und Mune neben sich in der Luft, das Schwert schwingend, getragen
von einem kehligen Schlachtruf. Er sprang über die Schilde der Riesen und flog über eine
brennende, von Pfeilen gespickte Ebene auf den Herrn der Monster zu. Hinter sich hörte er
Oduns Schar über die Riesenschilde reiten und ihre Schwerter ziehen. Gerade wollte er sein
Schwert niedersausen lassen, da warf ihn ein Schatten aus dem Sattel. Ein riesiger Wolf mit
brennenden Flammenaugen lief hechelnd auf ihn zu. Herge und Flerge warfen sich an seine
Hinterläufe und schon flogen Fellstücke aus dem blutigen Knäul. Huge und Mune kreisten
über dem Schlachtfeld und stießen unaufhörlich gekrächzte Schreie aus. Über den Bergen
erhob sich eine dunkle Wolke. Flügelschlagend eilte ein Heer von Raben auf die Riesen zu
und pickten und kratzten sie am ganzen Leib. Einen ganzen Tag lang tobte der Kampf.
Runen flogen, Schwerter klirrten, Schädel, Schilde und Harnische zerbarsten. Die Flammen
leckten himmelhoch. Tod tränkte das Feld und in der Luft hingen schwarze Federn. Als der
Himmel sich rot färbte, waren die Hänge des Kalten Berges ein verwüstetes Totenfeld.
Die Krieger von Oduns Schar lagen erschlagen am Boden. Die Raben pickten an den
Leichen der Riesen, funkenzersetzter Rauch erhob sich vom Boden. Narnewd lag, von
glühender Asche bedeckt am Boden, in der Hand hielt er seine zerbrochene Klinge, in das
verkohlte Holz seines Schildes bohrten sich Pfeile. Aus einer klaffenden Wunde quoll Blut
aus seinem Körper und spülte über seine zerfetzte Rüstung. Seine Augen wurden schwer
und sein Atem ging langsam und rasselnd. Über sich sah er Huge und Mune kreisen, dann
versank er in tiefer Schwärze. Vor sich sah er ein pulsierendes Licht. Ein einäugiger alter
Mann saß dort auf einem Thron, zwei Raben saßen auf seinen Schultern, zu seinen Füßen
lagen zwei Wölfe. „Narnewd B´Wron…“, erhob sich eine Stimme vom Thron. „Endlich
begegnest du mir. Solange war ich dein Schirmherr und solange werde ich es noch sein.“
„Odun“, krächzte Narnewd heiser. „Odun, Odin, Ygg, Bolverk, Wodan, Allvater, der
Einäugige…so nennt ihr mich auf der Erde, so erscheine ich euch. Nad B´Wron…diese
Verkleidung gefiel mir sehr, du warst ein wundervoller Sohn. Oduns Schar war ein Bündnis
wie kein anderes.“ „Jetzt liegen sie erschlagen auf dem Schlachtfeld des Kalten Berges. Und
nie wieder wird ihr Banner im Wind hängen…, Vater“, sagte Narnewd traurig. „Nie wieder?“,
fragte Odun und ein Lächeln lief über seine Lippen. Er wies mit der Hand in die Ferne und
vor Narnewd breitete sich die gesamte Welt aus. Narnewd sah den Kalten Berg, auf dem
noch immer die Riesenleiber lagen und die Krieger von Odins Schar verwelkten. Aber aus
den Mündern der Krieger krochen helle Schatten. Überall wo die Mächte der Düsternis ihren
finsteren Schein hinwerfen wollten, sah Narnewd die Geister seiner Freunde wie flammend
helle Schatten erscheinen und das Böse zurückdrängen, aber immer wieder zogen sie zum
Kalten Berg zurück und warteten auf Narnewd. In den Stein des Berges schlugen sie eine
Halle, in der sie ihn empfangen wollten. Aber immer noch mussten sie in die verwesenden
Leichen auf dem Schlachtfeld zurückkriechen. Flavia kniete neben Narnewds Leichnam und
hielt seine Hand. Blut tropfte aus einer tiefen Furche, die sich über ihr rechtes Auge zog. „Du
musst zurückkehren“, sagte Odun. „Du musst sie in die Halle tragen.“ Mit diesen Worten
verschwand er.

Narnewd schlug nach Luft schnappend die Augen auf. Sein Körper zuckte, an seinen Lippen
klebte Blut. Flavia hielt seine Hand. „Du bist zurück“, sagte sie. „Ich habe unseren Vater
gesehen…und die ganze Welt“, antwortete Narnewd mit heiserer Stimme. „Nein, du hast
deinen Vater getroffen“, meinte Flavia. „Ich bin eine Schöpfung des Allvaters, keine Tochter.“
„Die anderen“, raunte Narnewd, „ich muss sie in die Halle bringen. „Wir müssen…“, Flavia
nickte. „Wir müssen.“ Und so erhoben sie sich.

Noch heute sitzen sie auf zwei zerbrochenen Thronen in der Halle im Kalten Berg, umgeben
von den steinernen Ruhebetten der Krieger Oduns Schar. Wenn Oduns Welt untergeht, in
der Zeit des Ragnarök, werden Huge und Mune, die den Berg umkreisten in die Halle gleiten
und Narnewd ins Ohr krächzen, dass es Zeit zum Aufbruch ist. Herge und Flerge werden aus
den Wäldern brechen und Narnewds Bart, der in den Berg gewachsen ist, durchbeißen und
Sleipnar wird eine Herde Hirsche herbeiführen. So wird Oduns Schar zur letzten Schlacht
aufbrechen.