Von Aina Brummer-Roig
Krümel saß auf ihrem Lieblingsbaum und knabberte an einer Nuss, als ein ohrenbetäubender Knall die Luft durchriss. Erschrocken ließ das junge Eichhörnchen die Nuss fallen. Vögel stoben kreischend aus den Bäumen. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch kletterte Krümel den Baum herunter. Dann sah sie, was der Knall angerichtet hatte. Vor ihr lag ein totes Reh. Seine Gesichtszüge waren vor Angst und Schmerz verzerrt und seine Augen blickten reglos auf einen Punkt jenseits des Horizonts. Eine kleine Bleikugel ragte zwischen Blut und Fell hervor. Traurig beschnupperte Krümel die kleine Kugel. ˌWas war das?ˈˌ fragte sie sich. Das erfuhr sie früher, als ihr lieb gewesen war.
BUM, BUM, die Erde bebte. Krümel erstarrte und schaute voller Grauen auf einen Zweibeiner. In seiner Hand lag ein schwarzer, langer Gegenstand. Was Krümel nicht wusste war, dass das Ding ein Gewehr war. Krümel betete, dass der Zweibeiner sie nicht bemerken würde, doch zu spät, er richtete bereits das Gewehr auf sie. Wie im Traum sah Krümel, dass aus der Gewehrmündung eine kleine Kugel auf sie zugerast kam. Im letzten Moment duckte sie sich und rannte los. Krümel schlug im Lauf Hacken wie eine Wahnsinnige, um den Kugeln zu entkommen und flitzte wie ein geölter Blitz über den Waldboden. Ihr Herzschlag dröhnte in ihren Ohren. Nachdem sie gefühlt Stunden umhergerast war und kaum noch atmen konnte, machte sie eine Vollbremsung.
Vor ihr lag das Meer, die Wellen rauschten und die Möwen kreischten. Erstaunt schnappte sie nach Luft. Ratlos ließ sie ihren Blick über die Wellen schweifen. ˌWo war sie?ˈ, dachte Krümel. Doch sie war zu erschöpft. Müde schleppte sich das Eichhörnchen zu einem verlassenen Vogelnest. Kaum berührte ihr Kopf die weichen Federn, war sie auch schon ins Land der Träume gefallen. „Lebst du noch?“ Irritiert blinzelte das kleine Eichhörnchen. Vor ihren Augen schwebte ein grüner Ball. Sie blinzelte energischer. Nein, das war kein grüner Ball, es war der Kopf einer kleinen verschrumpelten Schildkröte. Ihr ganzes Gesicht schien aus Falten zu bestehen und ihre Stimme klang heiser. Schnell rappelte Krümel sich auf und fragte vorsichtig: „Wer bist du?“ Die Schildkröte sog rasselnd Luft ein und antwortete „Ich bin Kahela, die Schildkröte. Was sucht ein so junges Eichhörnchen, wie du hier am Strand? Die Frage beendete sie mit einem heftigen Hustenanfall. Krümel erzählte Kahela, was passiert war und erklärte ihr, dass sie künftig ganz weit weg von den Zweibeinern leben wollte. Kahela hatte ihr aufmerksam zugehört und sagte halb zu sich selbst: „Es gibt einen Ort, dort will kein Tier fort. Dort gibt es keine Zweibeiner, es ist eine Insel, die ist gar nicht klein“. In Krümel flammte ein Fünkchen Hoffnung auf. Vor Freude klang ihre Stimme plötzlich ganz weich und hell: „Es gibt einen Ort, an dem es keine Zweibeiner gibt? Erzähl mir alles darüber, wie ich diesen Ort finden kann.“ Kahela sagte, dass das Eichhörnchen nur der Sonne folgen müsste und die würde sie schon zur Insel bringen. Rasch bedankte sich Krümel bei der kleinen Schildkröte, zog ein verwaistes, aber stabiles Vogelnest und ein Stück Treibholz an den Strand, schob alles ins Wasser, sprang vergnügt ins Nest und begann, zu paddeln, der Sonne entgegen. Ihre Suche nach einer neuen Heimat hatte unwiderruflich begonnen.
Seit Stunden folgte sie nun schon der Sonne, doch keine Insel war in der Ferne zu sehen. Plötzlich fing es an zu regnen. Große Tropfen fielen auf das kleine Eichhörnchen. Und als ob das nicht schlimm genug wäre, erkannte sie am Horizont einen Tornado, der schnell näher kam. Verzweifelt versuchte Krümel, weg zu rudern, doch der Wind trieb sie direkt in den Wirbelsturm. Das Eichhörnchen bekam Angst. Wusch. Krümel wurde durch die Luft geschleudert wie eine Puppe. Es ging alles so schnell, dass sie nicht einmal schreien konnte. Dann schwanden ihr die Sinne. Wo auch immer Krümel nun war, sie fühlte sich wohl und warm und sie Sonne kitzelte ihr Fell. ˌWar sie vielleicht tot?ˈ, fragte sie sich. ˌWarum hörte sie dann aber das Rauschen des Meeres, warum spürte sie die salzige Gischt, die ihren Körper angenehm kühlte. Bedeutete das, dass sie überlebt hatte?ˈ
Taumelnd stand sie auf und blickte sich um. Sie befand sich auf dem größten Säugetier der Welt, einem Wal. Schüchtern rief sie dem Wal zu. „Ähm, hallo Mister Wal, ich will dich nicht belästigen, aber weißt du, wie lange ich schon hier liege und wo ich bin?“ Der Wal stieß überrascht eine Fontäne aus. „Du lebst? Gut!“ Seine Stimme dröhnte so tief wie ein Bass. „Du liegst hier schon seit 3 Tagen und 3 Nächten. Wir, die Möwen und ich, haben gar nicht mehr damit gerechnet, dass du noch einmal aufwachst. Wir sind hier irgendwo im Norden und falls du Hunger hast, die Möwen haben dir ein kleines Mahl hingelegt.“ Da merkte Krümel, wie sehr ihr Magen knurrte. Gierig verschlang sie die schleimigen Algen und war erfreut, als sie 3 Nüsse daneben sah. „Übrigens ich heiße Blue und du?“, fragte der Wal. „Was hat dich auf das Meer getrieben? Meines Wissens leben Eichhörnchen auf Bäumen und nicht auf hoher See.“ Krümel erzählte Blue, was sich zugetragen hatte. „Du willst also zum legendären Portal, das dich ins Paradies bringt“, sagte der Wal. Ich kann dir helfen.“ Es war als hätte jemand in Krümels Augen die Lichter angeknipst, so hell leuchteten sie nun.
„Wo ist das Portal?“ Vor Aufregung begann Krümel zu zittern. Der Wal schwieg einen Moment, aber dann begann er zu erzählen: „Hier, bei diesem kleinen Felsen entsteht heute Nacht das Portal. Sobald der Neumond am Himmel steht, wird es beginnen.“ Krümel stieß vor Freude die Faust in die Luft und schrie: „Paradies ich komme!“ Schnell rutschte sie vom Wal herunter und landete auf dem kleinen Felsen, der ihr die ganze Zeit schon aufgefallen war. Da bemerkte sie, dass in den Augen des Wales Tränen glänzten. Erschrocken fragte sie: „Was ist los, Blue?“ Der Wal holte tief Luft: „Es gibt da unten ein riesiges Ungeheuer, das jeden frisst, der auch nur in die Nähe des Portals kommt. Doch wenn du zum Portal willst, musst du dort hinunter.“ Eine von Blues Tränen platschte ins Wasser. Krümel sah dem Wal fest in die Augen und sagte: „Ich werde es schaffen. Ich habe es sogar geschafft, einen Tornado zu überleben.“ Betrübt schlug der Wal die Augen nieder. Krümel wollte sich noch etwas ausruhen, bevor es Abend wurde, legte sich auf einen kleinen Felsvorsprung und schlief ein. Als der Mond am Himmel stand, wachte Krümel auf und schaute ins Wasser. „Ich werde dich vermissen“, hörte sie Blue, der aus den Meerestiefen kam, sagen. Traurig schaute Krümel ihm in die Augen. Ein Schluchzer entrann seiner Brust. Sie umarmte seine Nase und wischte sich eine Träne von der Wange. Dann sagten sie sich Lebewohl. Der Wal stieß noch einmal einen langgezogenen Wehlaut hervor, dann verschwand er in den Wellen. Krümel schluckte die Tränen herunter, holte tief Luft und tauchte ein in die mysteriöse Welt des Ozeans. Als ihr Körper das Wasser berührte, merkte sie, wie kalt es war. Doch sie strampelte mit den Beinen weiter Richtung Meeresgrund. Der Wal hatte gesagt, dass das Portal hier unten sein musste. Erschrocken bemerkte sie, dass sie kaum noch Luft hatte. Aber sie wollte es schaffen und strampelte entschlossen noch mehr mit den Beinen. Was dann kam, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Vor ihr schwamm ein riesiger Krake mit dunkelroter schleimiger Haut und riesigen Fangzähnen. Das schlimme war, dass der Krake sie bereits bemerkt hatte. Am liebsten hätte sich Krümel unsichtbar gemacht, doch das ging nicht. Verzweifelt ruderte sie mit den Armen nach oben, um an die Meeresoberfläche zu kommen, denn die gespeicherte Luft reichte nicht mehr lang aus. Doch dann kam es, wie es kommen musste: Eine der unzähligen Tentakeln schoss hervor und riss Krümel in die Tiefe. Krümel schwanden fast die Sinne vor Angst und Luftmangel. Das kleine Eichhörnchen wurde durch das Wasser geschleudert, direkt in den Schlund des Ungeheuers. Sie atmete tief ein und aus und war froh, nicht mehr im Wasser zu seien. ˌDoch Moment: War sie nicht gerade von einem Ungeheuer verspeist
worden?ˈ, fragte sie sich.
Verwirrt öffnete sie erst das eine Auge und danach das zweite. Sie lag an einem Strand. Vorsichtig sah sie an sich herunter. Alles war in Ordnung. Auch die Arme und Beine funktionierten gut. Krümel traute sich, aufzustehen. Vor ihr lag das Paradies. Sie überlegte: ˌDas Ungeheuer war das Portal gewesen.ˈ Überall hörte sie Tiergeräusche. Der Wald war in ein helles, sattes Grün getaucht, es roch nach Moos, Tannenzapfen und nach Wildkräutern. Das Wasser war hellblau und glasklar. In den bunten Blumen auf den Wiesen summte es und der Wind blies sommerliche Wärme in das Paradies. Alles war herrlich gesund und zufrieden. Hier gab es keine Unruhestifter und damit auch keine stinkenden Zweibeiner. So fröhlich wie schon lange nicht mehr hüpfte Krümel davon. Hier konnte sie sich vorstellen, für immer zu leben. So endete die Reise vom Eichhörnchen.