von Ida Korzonnek
Prolog:
„Schau mal“, sagte Anja zu mir und schob die Zeitung rüber, sodass die nicht übersehbare, fette Schlagzeile zu lesen war: „Unbekannter verlangt völlig verrückten neuen Namen, der noch nicht mal existiert“, stand dort stolz. Darüber war ein Foto von dem „Verrückten“ abgebildet. Ich musste zugeben, er sah auch echt wie einer aus. Sein Gesicht war zwar gepixelt, aber man konnte trotzdem seine große Knubbelnase und sein weißes Haar erkennen. Das war exakt der Typ von Gesicht, den ich immer sofort unter der Kategorie „zerstreuter Professor“ unterbringe. Die tragen ja normalerweise auch einen Kittel. Der auf dem Foto trug auch einen und zwar einen DURCHSICHTIGEN!!! Ich meine, wie bescheuert sieht das denn aus? Durchsichtig!!! Deshalb konnte man darunter auch sein – allerdings normal gefärbtes – T-Shirt sehen. Und da verstand ich gar nichts mehr. Was sollte das alles? War das ein Scherz? Wenn ja, dann ein wirklich schlechter! Wir waren mitten im Januar, hatten minus 12 °C und der lief hier einfach im T-Shirt rum?! Da ist doch sogar „verrückt“ noch untertrieben!
„Komischer Kauz, was?“, meinte Anja. Ich konnte nur nicken, so sprachlos war ich davon. „Komm jetzt“, unterbrach Anja meine wilden Gedanken, „wir wollen ja noch zusammen ins Hallenbad… “. „… und danach ein Eis essen“, setzte ich fröhlich hinzu und schob die Gedanken an diesen wunderlichen Vogel zur Seite.
Da fing Anja auf einmal an zu lachen. „Was ist denn mit dir los?“, fragte ich verwundert. „Na, wir tragen zwar im Winter keine T-Shirts, aber Eis essen gehen wir schon!“, kicherte sie, als sie sich halbwegs beruhigt hatte. Da musste auch ich lachen. Klar, es klingt erstmal genauso verrückt. Aber direkt bei mir um die Ecke gibt es tatsächlich ein Eiscafé, das das ganze Jahr über offen hat. „Na dann, lass uns ins Hallenbad gehen!“, rief ich voller Vorfreude aus. Auf dem Weg plauderten wir noch ein wenig über den Verrückten. Das leise Summen und Sirren neben der kleinen Bank vor dem Hallenbad nahmen wir gar nicht wahr. Worauf wir bei unserer Unterhaltung aber auch nicht kamen: das war die Erklärung für eine Menge verrückter, passierter Dinge, die ebenfalls in der Zeitung standen.
***
„…hach ja“, seufzte MBF[1], der diese Unterhaltung im Vorbeigehen erfasst hatte. Eigentlich wurde er von Imjokte auf den Weg geschickt, um so circa oder vielleicht auch eben ganz exakt 23,78 cm Isolierkabel für seine nächste Erfindung einzukaufen. „Die beiden haben ja wirklich nicht Unrecht. Imjokte ist schon ein echt schräger Vogel, wenn man ihn nur so von außerhalb betrachtet… Manchmal ist es auch zu blöd, dass mich die Leute nicht wirklich wahrnehmen. Erst neulich, wisst ihr, was da passiert ist? Imjokte wäre dafür fast ins Gefängnis gekommen! Zum Glück ist das nicht passiert. Aber dafür ist er in eine Irrenanstalt eingewiesen worden! Ich musste ihn befreien. Und das alles nur wegen einer seiner Erfindungen, was für ein Drama! Aber ich möchte ganz von vorn anfangen, auch wenn er damals offiziell noch Jannik hieß, nannte er sich selbst aber schon Imjokte: Alles fing mit meinem Bau an…“
***
Ich war seine erste große Erfindung. Zwar wurde ich am 23.8.2016 fertiggestellt, aber Imjokte meint noch immer, dass es doch im Jahr 2123 war. Ja, er lebte praktisch schon in der Zukunft, was sowohl sein Verhalten als auch sein äußeres Erscheinungsbild erklärte…
***
„So, endlich fertig.“ Imjokte drehte die letzte Schraube fest. „Jetzt nur noch anschalten und – tadaa! – er funktioniert einwandfrei!“ „Hallo“, sagte ich. Mehr fiel mir nicht ein. – Oder doch?
„Wie heiße ich?“, schnarrte ich neugierig. „Und wie heißt du?“ „Ich bin Imjokte, Professor und selbst ernannter Zukunftsforscher. Und du bist MBF.“ „Hä?“ „Die Abkürzung von My Best Friend“, erklärte er. „Aber ich werde dich lieber Smarty nennen, clever scheinst du ja zu sein. Du bist ab jetzt mein Freund und Helfer, manchmal werde ich dich auch für Besorgungen nach draußen schicken, da ich die Außenwelt meide. Die halten mich doch alle für verrückt!“ „Ich nicht!“, sagte ich. Er nickte nur und versuchte, das Thema zu wechseln. „Jedenfalls plane ich, wo du so gut zu funktionieren scheinst, meine nächste Erfindung – eine automatische Kotwegputz-Maschine für den Gehweg!“ Daraus wurde ich irgendwie nicht so recht schlau. Fragend legte ich den Kopf schief. „Na, damit die Leute nicht immer in irgendwelche Hundehaufen treten, du weißt schon… Ich weiß auch bereits, was ich benötige, habe aber noch keine Skizze!“, seine Augen begannen freudig zu strahlen.
„Könntest du mir vielleicht 150 m Elektrokabel und jeweils 15 Päckchen Nägel und Schrauben, 26 Eisenplatten mit dem Flächeninhalt 1 m2, 160 m Kupferdraht und Kabelbinder besorgen, während ich die Skizze anfertige? Ach ja, zwei Riesen-Straßenkehrbürsten und zwei Motoren á 60 PS und 1600 cm³ auch noch bitte? Den Weg zum Baumarkt habe ich bereits auf deine Festplatte programmiert. Also alles klar? Mist, ich habe meinen Bleistift verlegt!!!“ „Ja, alles klar, aber eine Frage hätte ich noch – werden die Menschen mich nicht sehen?“ „Na, dafür habe ich schon gesorgt“, antwortete Imjokte, während er unter dem Tisch nach seinem Bleistift suchte. „Du hast da so einen Knopf am Bauch… Autsch!!“, schrie Imjokte, nachdem er sich den Kopf an der Tischplatte gestoßen hatte. „Aha“, meinte ich, obwohl ich nur Bahnhof und dass ich einen Knopf drücken sollte, verstanden hatte. „Also alles klar?“, hakte er noch mal nach. „Alles klar“, bestätigte ich. „Ich gehe dann mal zum Baumarkt“, rief ich und sah Imjokte zu, wie er fluchend hin und her rannte, nahezu deckenhohe Papier- und Bücherstapel durchwühlte und das wüste Chaos in seinem Labor nochmal komplett umwälzte. Er suchte wohl immer noch nach seinem Bleistift. Aber wozu war ich ein Hilfsroboter? „Ach so, der Bleistift befindet sich übrigens hinter deinem Ohr“, rief ich ihm zu. Er stutzte. Dann griff er hinter sein rechtes Ohr – und zog etwas hervor, was vermutlich einmal ein Bleistift war. Jetzt war es mehr ein heruntergespitzter, winziger Rest, der schon ganz zerkaut war. Brillant! Ich seufzte. Nun musste ich wahrscheinlich auch noch einen neuen Bleistift kaufen. „Danke“, rief mir Imjokte erleichtert zu, „ohne dich hätte ich hier noch tagelang gesucht!“ Das hörte ich aber nur noch aus der Ferne, als ich schon in der leeren Telefonzelle war, die sich über Imjoktes verstecktem Labor befand, damit das große Loch im Boden, das hinab zu seinem Labor führte, nicht auffiel.
„Also gut“, murmelte ich zu mir selbst, als ich draußen war, und drückte beherzt den Knopf an der Stelle meines Roboterkörpers, an der sich bei Menschen der Bauchnabel befand. Plötzlich verschwamm alles um mich herum und vor meinen Augen sah ich einen flimmernden Farbenwirbel. Mir wurde ganz schwindelig und ich hatte schon Angst, den falschen Knopf gedrückt zu haben, als alles auch schon wieder vorbei war. Ich sah an mir herunter – und war erleichtert und überrascht zugleich. Den richtigen Knopf hatte ich zwar gedrückt, denn ich hatte eine Menschengestalt – aber was für eine! Ich sah aus wie auf Imjoktes früheren Fotos, nur nicht ganz so verrückt, denn ich hatte normale Kleidung an und gekämmtere Haare als er. Immerhin trug ich keinen Laborkittel. „Na ja, machen wir das Beste draus“, meinte ich und ging zuversichtlich los. Ich wurde zur Kenntnis genommen, aber nicht angestarrt. Es fühlte sich als Menschengestalt zwar etwas seltsam an, aber innen war ich ja noch immer ein Roboter. Da hatte ich den Baumarkt schon erreicht.
Den Einkauf konnte ich ziemlich flott erledigen, es geschah sonst auch nichts Ungewöhnliches, und so war ich relativ schnell wieder auf der Leiter, die vom Loch bei der Telefonzelle in Imjoktes Labor führte. Er saß an seinem vollgeräumten Schreibtisch, zeichnete und schrieb emsig, führte zwischendurch kleine Selbstgespräche und schien nicht einmal zu bemerken, dass ich wieder da war.
Ich grinste. Dann wollte ich ihn auch nicht stören. Geräuschlos stellte ich die Taschen ab, schlich zu den meterhohen Stapeln und begann, ebenfalls geräuschlos (wir Roboter können das!), diese Stapel aufzuräumen und nacheinander weg zu sortieren. Gerade, als ich fertig war, wurde Imjokte auch fertig, drehte sich um – und erschrak.
„Ahh!“, brüllte er. Doch als er erkannte, dass ich es war, beruhigte er sich wieder. „Mensch, hast du mich erschreckt“, meinte er. „Sieh mal, hier ist meine – he, du hast ja aufgeräumt!“, rief er positiv überrascht aus. „Na, das musste aber mal sein“, erwiderte ich. „So wie es hier aussieht…“ „Stimmt“, gab mir Imjokte Recht. „Aber dafür habe ich den Bauplan und die Skizze für die Maschine fertig – und meinen Bleistift aufgebraucht.“ Ich ging hinüber zu den Einkaufstaschen und zog den neuen Bleistift hervor. „Daran habe ich gedacht oder warum hast du mich sonst gebaut?“ „Ja, genau für sowas – danke!“ Imjokte lächelte. „Kein Problem“, meinte ich. „Und das, was du bestellt hast, ist ebenfalls in den Taschen“, setzte ich hinzu und machte mich wieder ans Aufräumen, während Imjokte anfing, die Maschine zu bauen. Am späten Abend war das Labor (fast) aufgeräumt, die Maschine schon halb gebaut, Imjokte fix und fertig und mein Akku fast leer. „So“, sagte Imjokte zu mir. „Ich zieh mir jetzt meinen Schlafanzug an und gehe ins Bett. Dein Ladekabel ist hier -“ Er gab mir ein Ladekabel mit einem riesigem Stecker. „- und da ist deine Ladestation.“ Er wies auf einen Platz an der Wand nah am Boden, wo eine Steckdose und eine Matratze mit Decke und Kissen waren. „Danke“, sagte ich. Aber Imjokte war bereits im kleinen Bad verschwunden, wo er wahrscheinlich gerade unter der gedankenlesenden Dusche[2] stand und sich entspannte…
Ich wachte davon auf, dass mein Akku mir zuflüsterte, dass ich vollständig geladen sei, woraufhin ich den Stecker zuerst aus der Steckdose und dann das Pendant auch aus meinem Ladefach entfernte. Dann sah ich auf die in meinem Handgelenk eingebaute Uhr. Okay. Zeit zum Aufstehen. Auch für Imjokte. Sein Wecker mit den Antipp-Weck-Ärmchen war wohl kaputt. Aber für solche Notfälle hatte er schließlich mich. Ich ging zu ihm und weckte ihn, indem ich das Licht anmachte. „Noch 5 Minuten“, brummte er verschlafen. „Okay“, seufzte ich. „Aber dann wirklich! Und das Licht bleibt an!“
Bevor ich rausging, nahm ich noch den kleinen Wecker vom Nachttisch. Wieder zurück im Laborraum, nahm ich mir Imjoktes kleinsten und einfachsten Werkzeugkasten, schraubte den Wecker auf und begann, ihn zu reparieren. Es war sehr einfach. Schon nach zehn Minuten war ich fertig, stellte den Wecker zurück auf den Nachttisch und weckte Imjokte erneut. Er schlurfte ins Bad, während ich beschloss, ihm schon mal seinen Kaffee zu kochen. Extrastark – ja, so mochte er ihn am liebsten.
Imjokte kam aus dem Bad, mit Haaren, die aussahen, als hätte er in eine Steckdose gefasst. „Du müsstest dir mal dringend die Haare kämmen“, riet ich ihm, als ich ihm den Kaffee überreichte. „Vielleicht kannst du dafür einen Kamm erfinden, der dir, während des Kämmens die Kopfhaut massiert!“ Er grinste und nahm einen großen Schluck Kaffee. „Da hast du recht, das könnte ich wirklich mal machen – Donnerwetter, ist der Kaffee stark! Besser hätte ich es echt nicht hinbekommen.“
Der Rest des Tages verlief recht ruhig. Praktischerweise verfügte ich über einen eingebauten Drucker und Kopierer und konnte mir so kurzerhand Imjoktes Skizze für die neue Maschine vervielfältigen, um sie mir durchzulesen. Eigentlich gar kein schlechter Plan. Zwischendurch bat mich Imjokte, ihm Werkzeuge zu reichen. Wenn ich nichts zu tun hatte, räumte ich den Rest des Labors auf. Am Nachmittag ging ich Essen kaufen und bereitete Imjokte sein Lieblingsessen – Kartoffelbrei mit Spiegelei.
Bereits am Abend war die Maschine fertig. „Das hat ja gar nicht so lange gedauert“, sagte ich, als ich Imjokte beim Essen Gesellschaft leistete. „Nö“, meinte er. „Du hast da schon viel länger gebraucht. Außerdem tüftele ich da an noch so einer Sache die sehr, sehr viel aufwändiger ist!“ „Okay“, sagte ich, als mir ein kaputter Schraubenschlüssel ins Auge fiel: „Darf ich den essen?“, Imjokte nickte nur abwesend, also nahm ich mir den Schraubenschlüssel und zerkaute ihn wie ein Stück Brot. „Morgen probieren wir sie aus“, sprach Imjokte, mehr zu sich selbst als zu mir.
Am nächsten Morgen machte ich mich daran, Imjokte Kaffee zu kochen, weil er ohne den anscheinend nicht richtig funktionierte. Da Imjokte etwas länger im Bad brauchte als sonst, weil er seine Haare kämmte, ging ich in seinen Schlafraum und machte sein Bett. Als ich zurückkam, saß Imjokte bereits am Tisch und schlürfte seinen Kaffee. Sein Haar war ordentlich gekämmt und er sah insgesamt nicht mehr so müde aus.
„Weißt du“, sagte er gedankenverloren, „was für eine Sensation das werden könnte?“ „Ja, wenn es die Menschen wirklich so nervt, dass sie ständig in irgendwelche Haufen treten… dann könntest du tatsächlich Recht haben“, erwiderte ich. „Wie? Ach ja, diese Erfindung ja vielleicht auch“, meinte Imjokte zu mir. Schweigen trat ein, bis Imjokte seinen Kaffee ausgetrunken hatte. Er stand auf und zog sich seinen durchsichtigen Kittel an. „Ähm, meinst du nicht, dass dieser Kittel vielleicht etwas merkwürdig für andere aussieht?“, fragte ich. Imjokte hielt inne. Dann sagte er: „Darüber habe ich mir eigentlich noch nie Gedanken gemacht! Vielleicht lasse ich ihn einfach weg und ziehe einfach nur mein T-Shirt mit den eingewebten Heizdrähten an…“
Ich summte eindringlich und rollte drängelnd mehrfach vor und zurück. „Na gut, reich mir einfach meine intelligente Jacke, die ist zwar auch mit allerlei modernem Zeugs gefüllt, aber von außen sieht sie völlig normal aus!“
Ruckzuck war ich oben in der Telefonzelle. Die Straße war menschenleer. „Alles leer“, rief ich nach unten. „Gut!“, rief Imjokte zurück. „Dann komm und hilf mir mit der Maschine!“ Ich ging also nach unten und half, die Maschine in die Telefonzelle zu hieven. Gemeinsam schoben wir sie raus. „Uff, geschafft!“, ächzte Imjokte, als das Gerät endlich vor uns am Gehwegrand stand. „Na dann, mach sie an!“, meinte ich. Das tat Imjokte auch – Sie funktionierte! Und zwar ausgesprochen gut! Imjokte jubelte. Im nu waren alle Hundehaufen der näheren Nachbarstraßen eliminiert. „Na ja, wenn wir schon mal dabei sind, können wir sie auch gleich noch die ganzen Laubhaufen wegmachen lassen, oder?“, meinte Imjokte. Ich nickte. Das war eine Hammer-Erfindung! Blitzschnell waren auch die Laubhaufen weg. Das lief ja wie geschmiert!
„Jetzt solltest du die Maschine allerdings mal ausschalten“, riet ich Imjokte, der sofort zur Maschine hechtete und am An/Aus-Hebel zerrte. „Es geht nicht, der Hebel klemmt!“, rief er mir zu. „Dann lass mich mal ran!“, brüllte ich zurück. Imjokte ließ den Hebel los und machte mir Platz. Ich zerrte wie verrückt am Hebel – vergebens. Er bewegte sich keinen Millimeter.
Eine ältere Dame mit Hund kam vorbei. Sie starrte verwundert auf Imjokte und die Maschine, die der Hund leider ziemlich interessant fand. Er kam näher, um daran zu schnüffeln, doch das sorgte dafür, dass die Maschine auch ihn wegfegte. Seine Leine zog dabei die alte Dame mit sich, die zum Glück nicht weggefegt wurde, aber hinfiel. Imjokte half ihr auf und entschuldigte sich, aber die Frau hatte nur Panik um ihren Hund. Dem war glücklicherweise nichts passiert, aber er wurde von der verrücktspielenden Maschine über eine Hecke in einen Garten geschleudert und kam nicht von alleine raus.
Ich versuchte weiterhin, die eigenwillige Maschine abzustellen, aber der Hebel klemmte noch immer. Da ließ ich ihn einfach los und hob das Hündchen, ohne den Blick von der Maschine abzuwenden, über das Gartentor und setzte ihn wieder auf den Boden. In Nullkommanichts war er wieder beim Frauchen, das ihn erleichtert hochhob und Imjokte einen wütenden Blick zuwarf. Dann ging sie. Unsere Ruhe hatten wir aber deshalb noch lange nicht, denn das Spektakel hatte weitere Schaulustige angelockt. „Warne sie, dass die Maschine gefährlich ist!“, flüsterte ich Imjokte zu, der seine Hände warnend in die Luft erhoben losging, und der kleine Menge zurief. „Das ist nur der Test einer neuen Erfindung, die nicht nach Plan funktioniert! Haltet euch fern, das ist gefährlich!“ Ein Raunen ging durch die schon beträchtlich gewachsene Menge, die aber trotzdem einen respektvollen Schritt nach hinten machte.
Ich lief währenddessen zur Maschine und benutzte all meine Roboterkraft, um den Hebel umzulegen und alles zu beenden, aber der ließ sich nach wie vor nicht bewegen. Ich rief Imjokte um Hilfe, der auch sofort zu mir kam, aber selbst gemeinsam schafften wir es nicht, die Maschine aufzuhalten. Krach! Sie hatte einen Mülleimer umgerissen, der nun durch die Gegend flog. Die Menge an Schaulustigen johlte. „Oh nein!“, schrie ich erschrocken, als ich bemerkte, dass die Maschine auf ein Straßenschild zusteuerte. Es blieb uns nichts anderes übrig, als das Ungetüm vorsichtig in Richtung Labor zu lenken. Leider mussten unterwegs noch zwei Ampeln und weitere zwei Straßenschilder dran glauben.
Imjokte war geknickt. Traurig saß er in seinem ergonomisch geformten Gedanken-sortierungssessel mit eingebauter Vibrations-Massagefunktion, doch anstatt sich entspannt zurückzulehnen und sich wieder neu aufbauen zu lassen, stützte er die Ellenbogen auf die Knie und ließ seinen Kopf tief zwischen seinen Schultern hängen. Nicht einmal die Umgebung, sein eigens errichteter Dschungel, eine Art grüne Oase bei Licht und ein wunderschön illuminierter Raum in der Dunkelheit, ließ seinen Kummer etwas mildern, ebenso wenig sein Sorgen-und-Frust-Wegzauber-Pullover. Sein kleines Gewächshaus, das er innerhalb seines Laborkellers integriert hatte, um sich vom hektischen Alltag etwas zurückziehen zu können. Alle Pflanzen hatte die Gabe, im Dunkeln zu leuchten, da Imjokte die Gene von Glühwürmchen mit denen von Pflanzen verschmolzen hatte. Ich versuchte, ihn zu trösten. „Das kann doch mal passieren, ist doch nicht schlimm!“ „Nicht schlimm? Das war schon eine mittlere Katastrophe! Ich kann nochmal aufzählen: zwei Ampeln, drei Straßenschilder und ein Mülleimer, ganz zu schweigen von dem armen Hund!“, jammerte Imjokte. „Alle meine Erfindungen funktionierten nicht oder wurden abgelehnt. Wie zum Beispiel der Querdenker-Apparat, eine Art Helm, den man sich aufgesetzt hat, ein paar Hebel und Knöpfe betätigen musste, und schon wusste man alles für die Klassenarbeit: die Schüler fanden es super, aber die Lehrergewerkschaft protestierte, da nicht mehr selbständig gelernt wurde! Daraufhin wurde er verboten. Genau wie das Unsichtbarkeits-Gerät, da es vermehrt für Einbrüche und Museumsraube ausgenutzt wurde… und dann wurde es einfach kurzerhand per Gerichtsbeschluss beschlagnahmt. Und gegen meine automatisch mitwachsenden Schuhe haben die Schuhläden protestiert, weil sie nicht mehr so viele Schuhe verkaufen konnten.
Mein Plan, wegen der Übervölkerung der Erde Häuser unter Wasser und im Weltall zu bauen, hat überhaupt nicht geklappt. Die Skizzen für den Bau solcher Häuser habe ich noch, aber sie wurden nicht mal zugelassen!“
„Aber“, protestierte ich, „du bist gut und klug, und das meiste funktioniert doch. Ich funktioniere doch schließlich auch! Die Menschen sind halt noch nicht so weit… Bloß nicht aufgeben! Gibt es nicht noch etwas anderes, an dem du arbeiten kannst?“
„Hmmm…“ Imjokte überlegte. Dann hellte sich sein Gesicht schlagartig auf. „Aber ja, natürlich! Danke, Smarty! Das habe ich gerade völlig vergessen, aber da gibt es in der Tat noch etwas, an dem ich auch schon eine längere Zeit arbeite… Warte, ich zeig’s dir!“ Er sprang auf und lief zurück ins Labor. Gespannt folgte ich ihm. Imjokte ging zu einer Stelle an der Wand nahe meiner Ladestation, zog ein geheimes, gut getarntes Fach auf, in dem sich viele bunte Knöpfe befanden. Er drückte einige davon, bis ein leises Summen und Piepsen ertönte gefolgt von einem Klappern, wie man es vom Hochfahren eines Garagentors kennt.
Ich schaute in die Richtung, aus der die Geräusche kamen – und traute meinen Augen kaum. „WOW!“, schrie ich vor Begeisterung. „Ein Geheimraum!“
Doch der Inhalt sah schon nicht mehr so spektakulär aus – im Gegenteil: es erinnerte mich eher an einen großen Haufen Metallschrott. Noch bevor ich meine Roboterklappe halten konnte, entfuhr es mir: „Puh, zum Glück hast du das so gut versteckt, sonst hätte ich das ganze Gebilde noch weggeworfen!“
Da Imjokte bei diesen Worten etwas beleidigt aussah, setzte ich noch schnell hinzu: „Es sieht aber auch ziemlich cool, äußerst originell und sehr zukunftsorientiert aus – aber was ist das überhaupt?“ Imjokte strahlte. „Das“, sagte er lächelnd, „ist meine Zeitmaschine.“
Den Rest des Tages werkelten wir an der Maschine herum. Am frühen Abend musste ich noch einmal Kabel holen gehen, da sie uns ausgegangen waren. Am späten Abend war mein Akku leer und ich musste mich an die Steckdose schließen, während Imjokte weiterarbeitete. Ich wählte extra die Steckdose, die am nächsten bei ihm dran war, damit ich weiterhin mitarbeiten konnte. Als ich wieder so halbwegs aufgeladen war, kochte ich für Imjokte Kaffee, weil er einzuschlafen drohte. So verlief unser Alltag über mehrere Monate.
***
„So“, meinte Imjokte eines Morgens. „Dann lass uns mal starten.“ „Jawoll!“, rief ich und kletterte in die Maschine. Imjokte folgte mir und setzte sich in den Sessel vor dem Steuerpult. Ich, als Co-Pilot, setzte mich daneben. Ihr, liebe Leserinnen und Leser, wärt aus diesem komplizierten Steuerpult mit allem Drum und Dran sicherlich nicht schlau geworden, selbst wenn ihr selber Pilot seid. Denn da gab es noch viel mehr Steueroptionen als im Flugzeug, schließlich ging es ja durch Raum und Zeit. Selbst ich, ein Roboter mit viel mehr Ahnung von Technik als ein Techniker, hatte Mühe, das zu begreifen.
Imjokte drückte eine Reihe wilder Tastenkombinationen, um das Raumschiff in Gang zu bringen.
Was ich nun erlebte, erinnerte mich in Ansätzen an meine äußerliche Transformation, nur betraf es hier nicht allein mich, sondern auch Imjokte und die Maschine. Alles war viel länger, kräftiger, bunter und eindrucksvoller. Nennen wir es Farbdrehwirbelschwindel, wie Karussellfahren mit Regenbogen vorm Gesicht. Ich sah wechselnde Spektren und nie zuvor gesehene optische, räumliche Verzerrungen und Krümmungen.
Nach ein paar Minuten, die sich wegen der Neugierde wie Stunden anfühlten, setzten wir mit einem rumpelnden Knall auf einer Oberfläche auf. Ich machte die Tür einen spaltbreit auf, um zu sehen, wo wir gelandet waren. „Und?“, fragte Imjokte. „Sind wir schon auf einem anderen Stern?“ Ich machte die Tür auf und spähte nach draußen. „Nö, aber dafür mitten im Meer auf einer kleinen Insel“, antwortete ich und schlug die Tür wieder zu. „Und jetzt schnell weg hier, bevor noch das Wasser bei uns eindringt!“ Imjokte gab einige Zahlenkombinationen ein, als von außen bereits das Wasser gegen unsere Türen schlug, und drückte schnell auf „Plus“. Die Maschine hob ab und verschwand. „Puuh!“, seufzte ich erleichtert und schaltete die Sicherung wieder aus. „Das ist ja gerade nochmal gut gegangen!“ Imjokte schwieg konzentriert, als wir plötzlich einen Ruck spürten. „Was ist das?“, fragte ich. „Nur eine kleine Turbulenz. Das kann mal passieren, keine Sorge“, meinte Imjokte. „Nein, das meine ich gar nicht! Ich meine das hier“, erwiderte ich und zog eine Zeitung hervor. „Eine Zeitung, was sonst? Aber – wo kommt die überhaupt her?“, fragte Imjokte verwundert. „Aus der Zukunft!“, antwortete ich und deutete auf das Datum. „15.7.2096“, stand dort. „Die ist hier einfach so aufgetaucht, während der Turbulenz – aber hey, das da auf der Titelseite, das bist ja du!“ „Was?“, fragte Imjokte ungläubig, neugierig und überrascht zugleich. „Was steht denn da?“ „Geheimes Labor im Boden entdeckt. Gefunden wurden Fotos vom vermutlichen Besitzer und jede Menge Skizzen genialer Erfindungen, die die Menschheit gewaltig voranbringen“, las ich vor. Imjokte fiel die Kinnlade herunter. „Echt? Meine verrückten Erfindungen sind genial?“ „Das waren sie schon immer!“, meinte ich.
„Stopp, wir sind da! 2124! “ Imjokte bremste und landete galant. Ich öffnete die Tür – und stand einem verdutzten Reporter gegenüber. „Hallo“, sagte er. Ich war verwirrt. „Äh – hallo“, rief Imjokte ihm von seinem Sitz aus über meine Schulter entgegen. Der Reporter drehte sich um und rastete vollkommen aus, indem er wild gestikulierend mit den Armen winkte und wie verrückt herumhüpfte. Daraufhin stürmte eine ganze Menschenhorde durcheinander rufend auf uns zu. „Sind Sie etwa Imjokte!?!“… „Wow! Sie werden schon sehnsüchtig erwartet!“… „Endlich!“ „Er ist da!!“ …“Sie sind der Weltretter!“ … „Kommen Sie doch bitte mit mir ins Nachrichtenstudio! Ihre Häuser sind echt der Trend, total ökologisch und klimafreundlich und haben obendrein das Problem der Übervölkerung gelöst! Einfach genial! … Ihre Namenskreationen sind der Renner… und erst der Lebensverlängerer! … Ganz zu schweigen vom Querdenker-Apparat, und…“ Heftig auf ihn einredend, zog der begeisterte Reporter den überraschten Imjokte mit sich. Grinsend rollte ich den beiden hinterher. Das versprach, eine tolle, turbulente Zeit zu werden – auch für mich.
Epilog:
5 Jahre später
„Nun, bist du jetzt glücklich?“, fragte ich Imjokte. „Aber ja, warum nicht! Nie wurde ich von Menschen so gut verstanden wie hier!“, antwortete er. „Und außerdem wollte ich schon immer in der Zukunft leben! Hier tragen alle meine erfundene intelligente Kleidung, meine neuen Namen sind voll im Trend und meine Erfindungen sind Standard, ich bin der Retter der Welt! Zum Glück habe ich die Skizzen meiner Erfindungen aufbewahrt.“ „Und ich bin froh, dass mich die Menschen endlich so sehen können, wie ich bin!“, erwiderte ich. „Hier sind XRDDGS-Roboter ja auch Standard! Ich habe sogar schon einige Freunde gefunden!“ Da lächelte Imjokte. „Ja, ja, die Zukunft ist einfach wunderbar“, meinte er. „Stimmt“, bestätigte ich. Und dann gingen wir gemeinsam ein RM-Eis[3] essen.
ENDE
– oder doch noch nicht?
[1]Er ist Imjoktes allwissender Roboter und sein wichtigstes Herzstück, was vielleicht auch daran liegt, dass er seine einzige gut funktionierende Erfindung ist: ein XRDDGS-Roboter. Dieser hier heißt MBF, kurz für My Best Friend. Imjokte weiß, dass er ohne ihn einpacken könnte… für ein Leben ohne ihn ist er einfach zu vergesslich. Um zu verhindern, dass er immer alles verlegt, braucht er eben diesen Roboter. MBF hat auch ein Ich-Empfinden und kann sogar Freude, Langeweile und Trauer fühlen. Er hat auch einen Kosenamen, den Imjokte fast immer benutzt: Smarty, weil er so klug ist.
[2]Diese Dusche liest nur deine Temperatur- und sonstige Duscheinstellungs-Wünsche, um sich automatisch danach einzustellen, denn Imjokte nervt das ständige Temperatureinstellen vor dem eigentlichen Duschen.
[3]Ein Roboter-Menschen-Eis ist ein Eis, das sowohl für Roboter als auch für Menschen verträglich (und äußerst lecker) ist. Das gibt es auch in verschiedenen Geschmacksrichtungen.